Foto: Andrew Small von Unsplash

Aschermittwoch

Fast

„Kommst du mit? Kaffeepause machen?“, flüstert es auf einmal von der anderen Seite des Bücherregals. Ich stehe in der Unibibliothek Göttingen. Dankend winke ich ab. „Heute nicht.“ Mein Studienfreund kann schließlich nicht wissen, dass ich gerade weder Kuchen noch andere Süßwaren oder Kaffee zu mir nehme. Denn seit heute faste ich. Ich gehe wieder an meinen Arbeitsplatz zurück. Für meine Abschlussprüfungen muss ich noch eine ganze Menge lesen und lernen. Das schummrige Licht, der Staub der vielen Bücher und ihre mühsame und eigentümliche Aneinanderreihung von Buchstaben und Wörtern machen mich träge. Meine Augenlider blinzeln rekordverdächtig oft. Schließlich lasse ich meinen Blick verträumt durch das Fenster in die Ferne und über den Campus schweifen.

Dort, in der hinteren linken Ecke auf einer Bank unter dem Ahornbaum, sitzen ein paar meiner Freunde zusammen. Sie scheinen sich gemütlich zu unterhalten. Dabei schlürfen sie ihren Kaffee. Mein Studienfreund isst ein Stück Kuchen. Die Sonne scheint ihnen ins Gesicht. Ob sie mich vermissen?

Zu seinen Jüngern soll Jesus einmal gesagt haben „Wenn ihr fastet, macht kein leidendes Gesicht wie die Scheinheiligen. […] Daran sollen die Menschen [nämlich] merken, dass sie fasten.“

„Fasten“ was für ein merkwürdiger Begriff? Beim ersten Hören steckt für mich das kleine Wörtchen „fast“ darin: Etwas Vorläufiges, etwas Unerreichtes, etwas, das „beinahe“ eintrifft. Ich verwende es in Sätzen wie: „Fast wäre ich erster geworden“ oder „ich bin fast da“. Wenn diese Herleitung stimmt, dann könnte zum Fasten das Scheitern, das Unerreichte dazugehören. Doch der Blick in das Wörterbuch verrät etwas anderes: „Fasten“ leitet sich vermutlich von „fest sein“ oder „festhalten“ ab. Wer kann schon dem Duden widersprechen? Doch überzeugend ist das nicht. Denn schließlich zeigen unzählige Diätratgeber und Bücher zum sogenannten „Jojo-effekt“, wie schwer Fasten und Standhaftigkeit zusammenpassen. Meine Herleitung hat mir besser gefallen, denke ich missmutig.

„Wenn ihr fastet, macht kein leidendes Gesicht wie die Scheinheiligen.“

Kurzerhand verzichte ich auf die schlechte Laune, ich stelle meinen Stuhl an den Tisch, greife meine Jacke und gehe hinaus zum Ahornbaum. Vielleicht schmeckt mir auch Tee statt Kaffee.