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Judika

42,195 Kilometer Sehnsucht

Bei Kilometer 5 lernen wir uns kennen. Mitten in Hannover. Meine Ortskenntnisse sind gering, meine Aufregung groß. Er ist gelassen. Die Ziele von früher braucht er nicht mehr. Für ihn ist es der 20., für mich der zweite Marathon. Sein Ziel: Unter 4h. Mein Ziel: Unter 4h. Da ist klar: Wir haben uns für diesen Lauf gefunden. Die Kilometer verfliegen, bald weiß ich alles über ihn. Er lebt in einem Dorf im Umland. Seine Frau lächelt über seine Leidenschaft für die lange Strecke. Seine Laufkumpels sind diesmal nicht dabei. … Nach 15 Kilometern sind wir warmgelaufen und fiebern auf die Halbzeit hin. Wir wissen auch: Danach wird es härter. Nach 25 Kilometern werden die nächsten Trinkstände immer mehr herbeigesehnt. Doch dann: Seine Knie schmerzen. Er macht eine Pause. Wir wünschen uns einen guten Lauf: „Wir sehen uns dann im Ziel!“

Es geht weiter. Die 30 Kilometer schaffe ich mit einer Lockerheit, die mich überrascht. Dann werden die Kilometer zäher. Immer wieder schaue ich auf meine Zwischenzeiten, sorgfältig auf das Handgelenk gekritzelt. Höre auf die Motivationssätze, die ich mir zurechtgelegt habe. Bei Kilometer 35 dann plötzlich: Stechende Schmerzen im Knie. Das Gefühl hier geht gar nichts mehr. Warum mache ich das Ganze? Wozu in der Welt ist das Marathonlaufen gut? Nachher habe ich mein Leben lang orthopädische Probleme. Die letzte große Schleife liegt vor mir. Durch den Georgengarten quäle ich mich. Jeder Schritt tut mir weh. Und immer mehr werde mir bewusst: Alles selbst gewählt. Wem muss ich mich beweisen? Meine Freunde wissen von meinem Traum der Langstrecke. Fragen immer mal nach. Wem schulde ich den Beweis, dass ich das schaffen kann? Für welche Ziele lebe ich? Jeder Stich im Knie hämmert die Fragen mehr und mehr in meinen Körper ein.

Endlich, die letzten Kilometer. Ich liege gut in der Zeit. Ich laufe und laufe. Das Bild von mir, dass ich meine Zielzeit erreiche, spornt mich an. Lässt schmerzende Knie vergessen. Ich laufe und laufe. Dann endlich: das Ziel. Angekommen. Bin ich, was ich laufe? Ich bin vor allem eins: dankbar. Dass ich mich ausprobieren darf. Schmerzen aushalten. Laufen, solange es geht. Mich selbst unterwegs neu kennenlernen: Verletzlich. Auf andere angewiesen. Mit Träumen, Zielen, Idealen und Bildern von mir selbst. Ich sehne mich nach Freiheit. 42,195 km lang. Ich. Durchgehalten. Angekommen. Befreit.

– Geeske Brinkmann • Vikarin in Buchholz in der Nordheide –