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Karfreitag

Ecce homo

Guck dir diesen Menschen an. Mehr ein Berg aus durchgewetzten, siffigen Decken und Jackenschichten, der langsamer als die meisten andern vor sich hin schlurft. In beiden Händen hält er je eine vollgestopfte löchrige Plastiktüte, die scheinen seine hängenden Schultern noch ein bisschen weiter runterzuziehen. Gesenkter Kopf, hellgrauer Bart, hellgraue Haare, grobe Poren, dicke Augenbrauen. Alles wirkt irgendwie klebrig an dem. Die Leute gehen zügig und mit Abstand an ihm vorbei und gucken dabei angestrengt nicht ihn an.

Guck dir diesen Menschen an. Wunderschöne Locken, die sie schon seit Jahren färbt, um das Grau zu kaschieren. Ihre Beziehungen sind der Reihe nach dem Schichtdienst zum Opfer gefallen. Sie ist zu alt, um noch auf eine nennenswerte Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen zu hoffen. Und nicht alt genug, um den täglichen Zeitdruck und die unsensiblen Kommentare der Chefin einfach abprallen zu lassen. Zu alt, um woanders mit Kusshand angenommen zu werden. Nicht alt genug, um nur noch ein paar letzte Jahre die Zähne zusammenbeißen zu müssen.

Guck dir diesen Menschen an. Ein Mensch, der gerade mal einen Meter groß ist und noch nicht mal vier Jahre alt. Liegt am Strand, auf dem Bauch. In einiger Entfernung noch fröhlich quiekende Kinder in Badehose. Der Kleine liegt da regungslos mit völlig durchgeweichten Klamotten. Sein Gesicht ist in den Sand gedrückt und wird in regelmäßigen Abständen von einer brandenden Welle überspült. Er quiekt nicht mehr, der atmet auch nicht mehr.

Und die Menge gafft und spuckt und brüllt.

Pilatus wäscht seine Hände in Unschuld.

Petrus hat natürlich wie alle von nichts gewusst.

Und der Hahn hat echt sein Bestes gegeben und gekräht, was das Zeug hielt. Aber das ist nun auch schon viele Jahre her.

– Sabine Groen • Vikarin in Bremen