Es ist Samstagnachmittag, geschäftiges Treiben im und um den Dom. Abgehetzt, mit Einkaufstüten in der Hand, stoße ich das schmiedeeiserne Portal auf. Ich erspähe den letzten freien Platz und nehme ihn zielstrebig in Besitz. Geschafft.
Schon beginnen die Ersten in meiner Umgebung zu klatschen. Wohlwollender Applaus begleitet die schwarze Perlenschnur von SängerInnen, die sich auf das Podest fädelt.
Dann senkt sich Stille über den Raum. Alle Akteure blicken gebannt auf die erhobenen Hände. Für die nächste Stunde werden sie sich ihren Anweisungen vollkommen hingeben.
Eine kaum wahrnehmbare Bewegung setzt alles in Gang.
Bogen streichen über die tiefen Saiten – langsam pulsierend. Das Herz beginnt zu schlagen.
Ruhige Läufe legen sich darum, weben ein engmaschiges Netz – schweben, auf und ab, immerzu, scheinen gefangen in ihrem minimalen Tonumfang.
Laute der Flöten und Oboen konkurrieren miteinander, beharren auf ihrer Position, geben auch nicht nach, nur um der Harmonie willen. Dissonanzen entstehen und lösen sich nicht auf.
Keine Gnade. Kein Erbarmen.
Ich tauche ein in das Ringen der Instrumente - erkenne mich und meine Widersprüche, die Spannungen in meinem Leben wieder.
Meinen Herzschlag, meinen eigenen Rhythmus, lasse ich im Pulsieren des Alltags kaum noch zu. Renne dem Leben hinterher.
Ein engmaschiges Netz an Erwartungen und Plänen hält mich in minimalem Bewegungsradius gefangen.
Ich kreise um Probleme und zurre dabei das Gewebte nur noch fester zusammen.
Und wie oft verharre ich bei meiner Position und nehme Dissonanzen bereitwillig in Kauf?!
Keine Gnade? Kein Erbarmen?
Mein Leiden findet sich in Klängen wieder, die Jesu Leiden erzählen: Die Johannespassion von Bach. Seit fast 200 Jahren ein Klassiker. Die Geschichte dieses Meisterwerkes ist ein einziges Ringen um eine Antwort auf die Frage: Wie kann ich das Leiden und die Hingabe Jesu für mich deuten? Über 25 Jahre hinweg hat Bach sich die Komposition vorgenommen, ausgeschnitten und eingefügt, Schwerpunkte verändert.
„Durch dein Gefängnis Gottes Sohn, ist uns die Freiheit kommen. ...“ heißt seine Antwort am Dreh- und Angelpunkt der Komposition.
Meine Ohren genießen die weichen Harmonien, den hellen und strahlenden Klang.
Ich sitze im Dom und genieße. Genieße die Klänge, genieße die Zusage: Es gibt Gnade und Erbarmen für mich! „Ist uns die Freiheit kommen“ – mitten im Alltag – mit Einkaufstüten in der Hand.
– Rebecca Denger • Vikarin Hiddestorf und Ohlendorf –