Foto: Merle Specht

Ostersonntag

Heiliges Feuer

Seit sechs Stunden sitzt sie im Nieselregen auf dem Dach und beobachtet das Tor am anderen Ende der Gasse. Sie hatte die Reise aus ihrer Heimat in Griechenland extra auf sich genommen, um heute hier zu sein. Und als sie dann um halb acht an der Grabeskirche in Jerusalem ankam, war sie trotzdem zu spät. Alles voll, keiner kommt mehr rein. Der einzig erlaubte Platz in der näheren Umgebung ist dieses Dach, von dem aus man das Eingangstor zur Grabeskirche sehen kann.

Jedes Jahr geht der griechisch-orthodoxe Patriarch von Jerusalem am Karsamstag des Osterfestes in das Grab Jesu, nachdem er auf Streichhölzer, Feuersteine oder andere Zündmittel durchsucht wurde. Und dort geschieht es: ganz ohne äußeres Zutun entzündet sich im Grab eine Kerze so heißt es – entzündet mit heiligem Feuer, direkt von Gott gewirkt. Dieses Feuer trägt der Patriarch aus dem Grab zu den wartenden Christinnen und Christen in der Kirche. Und sie wiederum bringen es aus der Kirche in die Straßen Jerusalems.

Wann kommt es endlich zu ihr? Zusammen mit vielen anderen auf den Dächern und Balkonen wartet sie darauf, dass sich etwas regt. Da sieht sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung: Ein junger Mann in Lederjacke und Jeans zwängt sich durch das Kirchentor und kommt mit einem Bündel brennender Kerzen die Gasse hinunter. Aus den Fenstern und Türen klettern Menschen, von den unteren Balkonen springen sie sogar herunter. Auch sie drängt sich nach vorne an den Rand des Daches. Denkt wohl jemand an sie hier oben? Immer mehr Menschen entzünden ihre Kerzen, geben das Feuer weiter. Doch da klettert der Mann in Lederjacke mit einer einzelnen brennenden Kerze in der Hand am Nachbarhaus erst auf die Fensterbank und versucht dann über die Regenrinne zu ihnen auf das Dach zu gelangen. Sie streckt sich, so lang es irgend geht, und versucht, ihre Kerze an seiner zu entzünden. Und wirklich – die Dochte berühren sich: Die erste ihrer dünnen Kerzen brennt, bald ihr ganzes Bündel. Sie gibt die Flamme weiter an die anderen Menschen auf dem Dach.

Als diese es weiterverteilen, kommt sie das erste Mal an diesem Morgen zur Ruhe. Ganz tief blickt sie in das Kerzenlicht und fährt mit ihrer freien Hand langsam durch die Flamme. Und tatsächlich, sie hatten Recht: Sie spürt keinen Schmerz, die Flamme verbrennt sie nicht, nur ein leichtes Prickeln spürt sie auf der Haut. Da beugt sie sich über und hält auch ihr Gesicht in die Flamme, lässt sich ganz erfüllen von dem Feuer, das nicht vernichtet, sondern erleuchtet.

Ganz anders als normales Feuer – das heilige Feuer – das Feuer der Auferstehung.

– Julia Nikolaus •  Vikarin in Munster