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Für einige Sekunden

Rom. Die ewige Stadt. Das ewige Verkehrschaos. Eines Mittwochmorgens, zum Berufsverkehr, wenn der Asphalt besonders umkämpft ist. Eine der großen Einfallstraßen. Zahllose Pendler drängen in die Stadt.
Ich spüre, wie das Gemisch aus frischer Morgenluft und Abgasen meinen Brustkorb weitet.
Inmitten der Autos, Vespas und Lieferwagen sticht mir ein Radfahrer ins Auge. Fahrräder sind im römischen Verkehr eine seltene (und durchaus bedrohte) Spezies. Wer Rad fährt, fällt auf.
Zügig ist der Radfahrer unterwegs, zielstrebig. Geschickt weicht er den unzähligen Schlaglöchern aus. Die teuren Lederschuhe lassen mich vermuten, dass er unter der Funktionsjacke ein perfekt sitzendes Sakko trägt.

Plötzlich bremst er ab. Er bringt sein Gefährt am Straßenrand zum Stehen, auf Höhe eines kleinen Schreins mit einem Kruzifix darin.
Den Blick auf den Gekreuzigten geheftet, hebt der Radfahrer die rechte Hand. Berührt sich an der Stirn, an der Brust, schließlich die linke Schulter und die rechte.
Und dann hält er inne, für einige Sekunden nur. Die Augen fokussieren weiter das Kreuz.
Der Verkehrslärm ringsum – das Tosen der Motoren, das Knattern der Vespas, das Keifen der Hupen – all das spielt keine Rolle.

Was geht ihm wohl durch den Kopf, in diesen Sekunden?
Denkt er vielleicht an die bevorstehende Rücken-OP seiner Mutter? Seit Jahren schon hat sie es im Kreuz.
Oder schickt er ein Stoßgebet raus? Dass er die Demütigungen seines Chefs, die ihn auch heute erwarten, irgendwie überstehen möge. Drei Kreuze wird er machen, wenn der Alte bald in Rente geht.
Oder seufzt er vor Erleichterung? Weil ihn der Fiat, der ihm vorhin an der Kreuzung die Vorfahrt nahm, nicht erwischt hat.
Egal was es ist, das ihm in diesen Sekunden durch den Kopf geht: Hier, beim Gekreuzigten, scheint es gut aufgehoben zu sein.