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Das Kreuz Kreuz sein lassen

Mitte Januar seh’ ich sie. Die ersten Schoko-Ostereier schummeln sich in die Regale des Supermarktes. Wie jedes Jahr nehmen sie uns einfach das Ende der Geschichte vorweg. Ich ärgere mich.
Wir glauben es heute und Jesus wusste es damals.
Er wusste, wenn er sein Leiden durchgestanden hat und den Kreuzestod gestorben ist, dann ist sein Auftrag erfüllt.

Jesus wusste es.

Doch wie fühlten sich die Menschen, die ihn liebten? Die ihn sehen mussten, wie er verleumdet und verfolgt wurde, wie er gelitten hat und gestorben ist?Seine Mutter stand unter dem Kreuz und musste ihrem Sohn hilflos zusehen. Auch einer seiner Jünger, Johannes, wachte bei ihm.
Sie sahen ihn sterben.
Für beide gab es in diesem Moment noch keine österliche Hoffnung. Für sie war es zu spät.
Bereuen sie etwas? Bleibt etwas unausgesprochen? Was liegt ihnen noch auf dem Herzen?
Beim Abschiednehmen bleibt doch immer etwas liegen... oder?

Deswegen nehme ich die Passionszeit zum Anlass, das Leid und die Stille auszuhalten. Ganz ohne österliche Auferstehungshoffnung.
Ich möchte anerkennen können, dass Jesus auch für mich am Kreuz gestorben ist.
Für meine Schuld. Für mein „zu spät.“
Ich gebe zu: Manchmal ist mir das unangenehm. Viel lieber möchte ich selbst wieder gut machen, was ich verbrochen habe.
Wie oft wollte ich meine Fehler ungeschehen machen oder wütende Worte wieder zurücknehmen? Manchmal ist es einfach zu spät.
Alles können wir nicht allein wieder in Ordnung bringen, da sind wir auf Gottes Hilfe angewiesen.
Ich möchte meine Trauer über mein „zu spät“ zulassen.
Ich möchte mich ärgern, über die Ungerechtigkeiten und das Leid auf dieser Welt.
Vor allem aber möchte ich Jesus am Kreuz, dessen Anblick so schnell zur Gewohnheit wird, nicht weiter „übersehen“.
Ich möchte es wieder mit dem Herzen sehen. Die Liebe spüren, aber auch den Schmerz aushalten, der damit transportiert wird.
Das Kreuz einfach Kreuz sein lassen.

– Raphaela-Catina Gerlach, Vikarin in Scharnebeck